Geschichtensammlung
Wenn ich etwas sagen könnte; wenn ich ein paar Worte äußern dürfte; wenn es mir tatsächlich möglich wäre, anderen etwas mitzuteilen und tatsächlich vernommen zu werden, vielleicht sogar verstanden; wenn ich herauszufinden versuche, wer ich bin; wenn ich begreife, dass ich dreißig Jahre ein Teil dieser Welt bin, dass mein ruheloser Geist und mein müder Körper dreißig Jahre ein Ganzes bilden, dass meine Seele dreißig Jahre auf der Suche ist; wenn ich verstehe, dass ich alles beeinflussen aber nichts verändern kann, dass ich eigentlich kaum die Gegenwart genieße, dass ich zu sehr an der Vergangenheit hänge, dass ich zu viel für die Zukunft plane, dass ich das Hier und Jetzt voll auskosten sollte; wenn mir klar wird, dass ich manchmal falsch handle, dass ich meine Fehler akzeptieren muss, dass ich meine Talente schätzen kann, dass es mir möglich ist zu helfen; wenn mich überkommt, dass ich meine eigene Geschichte kreiere, dass meine Wünsche wahr werden, dass der dunkelste Moment nur ein Wendepunkt ist, dass auch das hellste Ziel bloß den Weg darstellt, dass ich im Schicksal verwoben bin; wenn ich gleichzeitig lachend und weinend Zeichen für Zeichen erschaffe; wenn ich für die gewaltigsten Veränderungen dankbar bin und um die unbedeutendsten Dinge bitte; wenn ich in der Lage wäre, eine Botschaft in die Welt zu setzen; wenn ich tatsächlich ein paar Worte äußern dürfte, wenn ich wirklich etwas sagen könnte ... dann würde ich schweigen – ich würde die Unendlichkeit umarmen, meinen ganzen Schmerz sowie meine ganze Freude in meine Stille legen, und ich würde warten; warten, weil ich verstehen will, was mein Herz mir zuflüstert; weil ich wissen will, was das Universum weiß.
Einige mögen vielleicht wissen, dass die Theorie des Schmetterlingseffekts besagt, der Flügelschlag eines Schmetterlings könne einen Sturm auslösen. Obwohl die Chaosforschung durchaus ein Teilgebiet der Wissenschaft ist, kann das Beispiel des Schmetterlings nicht wortwörtlich genommen werden. Große fatale Auswirkungen können kleine banale Ursachen haben. Aber ein so zartes und verletzliches Geschöpf besitzt doch kaum die Macht, die Umwelt auf eine solche Weise zu beeinflussen. Und was, wenn doch? Was, wenn eine kaum wahrnehmbare Aktion eine unermesslich gewaltige Folge nach sich zieht? Möglicherweise steckt im Chaos sehr viel mehr Ordnung, als wir denken.
Farben. Zeichen. Immer dieselbe Handbewegung. Papier und Plastik. Wieder und wieder und wieder. Bald ist das Fach aufgefüllt, doch das nächste Loch hat sich bereits aufgetan. In den Handschuhen können meine Finger das Material nicht ertasten, aber das Gewicht lastet stark auf ihnen. Kekse und Bonbons, Zucker und Mehl, Reis und Nudeln, Tee und Kaffee, stets dieselben Sachen. Es ist eine nie enden wollende Tätigkeit, eine Aufgabe ohne Ziel.
Ich frage mich, ob es einen Sinn hat. Wie so oft kann ich mich nicht auf die Gegenwart konzentrieren, und die Gedanken prasseln nur so auf mich ein. Trägt diese Arbeit zum Gemeinwohl bei? Hat das, was ich tue, einen Nutzen? Wenn ich nicht wäre, würde ein Kunde möglicherweise sein Lieblingsgetränk nicht bekommen oder einen Tag ohne Milch auskommen müssen. Allerdings wäre ich innerhalb einer Woche ersetzt. Denn selbst ein Kind könnte diese Art von Arbeit verrichten.
Müde gehe ich nach Hause, an einen Platz, den ich nicht als Heimat bezeichne. Während ich einen Fuß vor den anderen setze und den Weg zurücklege, spielen sich in meinem Kopf noch einmal die Ereignisse der letzten Tage ab. Hauptsächlich handelt es sich um unbedeutende Erinnerungen wie etwa das monotone Einsortieren der Waren. Da sind aber auch diese fast schon wunderbaren Momente, welche von meinem Gedächtnis einfach zu wenig geschätzt werden.
Habe ich nicht einer Person geholfen, indem ich ihr etwas geholt habe? Habe ich eine Person denn nicht sogar zum Lächeln gebracht, indem ich mich für ihre Kunst interessiert habe? Habe ich mit einer Person nicht Freundschaft geschlossen, indem ich mich dafür bedankt habe, was sie für mich getan hat? Habe ich nicht das Herz einer Person berührt, indem ich ihr gesagt habe, wie unvergleichbar schön ihre Augen auf mich wirken?
Vielleicht sind es nicht die Dinge, mit denen wir uns identifizieren. Körper, Arbeit, Heimat, bloß Konstrukte des Egos. Vielleicht sind die kaum merklichen Taten viel wichtiger. Jemandem zu helfen. Oder zum Lächeln zu bringen. Versuchen, immer für Freunde da zu sein. Zu lieben. Dies sind jene winzigen Aktionen, welche gigantische Folgen nach sich ziehen. Voller unglaublicher Wunder. Sei selbst das Licht, das du in dieser Welt suchst. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
Du hättest bleiben sollen, sagst du dir. Aber du bist gegangen.
Du hast die Zeichen ignoriert, obwohl die Luft voll davon war, wie der penetrante Duft einer Blumenwiese, wenn der Wind direkt in deine Richtung weht. Du hast die Person, die du liebst, im Stich gelassen. Du hast den Menschen, den du vermisst, beiseitegeschoben. Du hast nicht gewusst, wie du helfen sollst. Ob du überhaupt helfen darfst. Kannst dir ja nicht mal selbst helfen, sagst du dir.
Als die Welt geschlafen hat, hast du das Abenteuer gesucht. Immer versucht, ein Stückchen mehr erlebt zu haben, wenn alle anderen aufwachen und bloß geträumt haben. Vielleicht hättest du nur ein einziges Mal innehalten sollen. Auch ein bisschen fantasieren. Träume, die länger anhalten als nur eine Nacht, denkst du dir. Nichts allzu Aufregendes, doch vielleicht etwas, das dir Sicherheit beschert. Es gibt Dinge, die du haben kannst aber nicht behalten. Aber es wäre doch schön, etwas behalten zu können.
Stumm wandelst du durch das leere Haus, Zimmer für Zimmer, wie betäubt. All die Erinnerungen ziehen dir den Boden unter den Füßen weg. Zu viele leere Stühle, auf denen niemand sitzt. Ein zerbrochener Bilderrahmen, eine tränenbenetzte Nachricht, ein durchgestrichenes Wort, alles gleitet dir aus den Fingern, als hätte es das nie gegeben. Wäre es nicht schön, etwas behalten zu können, fragst du dich.
Und du bist wütend. Und du solltest wütend sein. Es ist nicht fair, sagst du dir. Für alle anderen geht die Zeit weiter, nur für dich scheint sie stillzustehen. Mahnungen in Form von Bildern und Geräuschen prasseln auf dich ein. Und selbst wenn du im Bett liegst und alles leise sowie dunkel ist, musst du daran denken. Immerzu, als wäre es eine nie enden wollende Bestrafung, auferlegt von dir selbst.
Du hast nicht gewusst, wie du helfen sollst. Und es ist dieselbe Leere, die nach dir greift. Dasselbe sinnlose Verlangen, ins Nichts zu springen. Es ist derselbe Fehler, der auch alle anderen gepackt hat. Alle sind sie gegangen. Weil sie nichts mehr zu verlieren hatten. Und auch du überlegst dir, was dir noch geblieben ist. Du hältst eine mickrige Liste in der Hand, welche immer kürzer und kürzer wird. Irgendwann fallen auch die letzten Buchstaben vom Papier herunter. Und dann wandelst du ein letztes Mal durch das leere Haus, Zimmer für Zimmer, wie betäubt. Alle haben dich beiseitegeschoben. Alle haben dich im Stich gelassen. Niemand hat gewusst, wie dir zu helfen ist. Wen kümmert es, wenn unter Millionen von Sternen ein einziges Lichtlein erlischt, fragst du dich.
Du hättest bleiben sollen, sagst du dir. Aber du bist gegangen.
Manchmal starre ich ins Nichts, und sofort schießen mir tausende Gedanken durch den Kopf. Dann würde ich gerne den Mund öffnen und irgendetwas Wichtiges sagen; etwas von Bedeutung. So wie der persische Dichter Rūmī, bei dem jedes einzelne Wort so präzise gewählt und so perfekt platziert ist, dass man von seinen treffenden Weisheiten beinahe erschlagen wird. Aber ich blicke nur stumm aus dem Fenster und versuche mit kindlichen Begriffen so gut es geht das zu beschreiben, was vor meinen Augen Gestalt annimmt.
Während ich drinnen im Dunkeln stehe, in dem nur die Anzeige der Digitaluhr zu sehen ist, geht draußen die Sonne auf und färbt den Himmel rot.
Nachdem ich irgendwelche Phrasen aneinandergereiht habe, seufze ich. Gähnend frage ich mich, ob Schriftsteller wie Murakami Haruki auch mit solchen nichtssagenden Sätzen beginnen oder ob ihre Texte gleich auf Anhieb einer ganz anderen Liga angehören. Woran es liegt, dass mir solche Autoren gefallen, weiß ich nicht. Zumindest kann ich es nicht sachlich erklären. Es ist mehr so eine emotionale Sache. Wahrscheinlich liegt es nicht daran, welche Begriffe sie wählen oder gar welche Position ihre Worte einnehmen. Wenn ich allerdings ihre Werke lese, dann schwingt ein besonderes Gefühl mit. Am ehesten würde ich es als Melancholie bezeichnen. Bittersüß.
Während draußen die Sonne aufgeht und ein rotes Tuch auf das Land wirft, leuchtet drinnen die Anzeige der Digitaluhr in derselben Farbe. Beide sind ein Beweis dafür, dass die Zeit verrinnt.
Langsam formen sich konkrete Bilder. Von jetzt an kann ich die Zeichen verschieben, wie ich es will. Es ist, als würde man mit Bausteinen hantieren. Und weil bereits Kleinkinder so etwas können, fühlt es sich ganz natürlich an. Möglicherweise gehen ja auch Schreiber wie Paulo Coelho so vor, wenn sie kreativ werden. Aber es sind noch viel zu viele unterschiedliche Farben in der Konstruktion vorhanden, weshalb ich alle Einzelteile gründlich mustere, bevor ich etliche von ihnen aussortiere.
Drinnen leuchten Zahlen, draußen geht die Sonne auf, beides blutrot. In der Dunkelheit stehend, wird mir bewusst, dass der Moment bereits verschwunden ist.
Ich lächle zufrieden. Endlich ein paar Sätze, die klingen, als hätte sie ein Poet zu Papier gebracht. Vielleicht kann ich diese Kreation irgendwann nutzen. Als ich mich vom Fenster abwende, merke ich, dass da nichts Rotes mehr ist. Der klare Himmel hat schon einen blauen Ton angenommen, und die Sonne leuchtet gelblich. Auch die Dunkelheit in meinem Zimmer ist verschwunden. Was geblieben ist, sind lediglich die rot leuchtenden Zahlen.
Es tut weh, wenn man auf der Suche ist.
Nach etwas, oder jemandem. Man weiß nicht, wie man es findet. Wo man es findet. Wann man es findet. Man weiß nicht einmal, ob man es findet. Man kann sich nicht sicher sein, dass es auf einen wartet. Man weiß nur, dass es unglaublich wichtig ist. Und das schmerzt mehr als alles andere.
Ich würde gerne wissen, ob ich der einzige Mensch bin, der so empfindet. Von morgens nach dem Aufwachen bis abends vor dem Einschlafen denke ich daran. An dieses eine wichtige Etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Eine bestimmte Person möglicherweise? Könnte es ein Ding sein? Ob es irgendein Ort oder irgendeine Zeit ist? Etwas, das es zu erledigen gilt?
Ohne es fühle ich mich leer, unvollkommen. Wie eine Person ohne Seele, ein Frühling ohne Blüten, ein Sommer ohne Wärme, ein Herbst ohne Wind, ein Winter ohne Schnee, eine fade Suppe, ein zähes Buch, eine langweilige Unterhaltung, wie eine Tätigkeit ohne Sinn sozusagen.
Und die Leute, die mit allem, was sie haben, unzufrieden sind? Haben sie nichts, wonach sie suchen? Oder haben sie es aufgegeben? Haben sie sich ablenken lassen? Sich einreden lassen, dass es falsch ist? Dass sie sich auf etwas anderes konzentrieren müssten? Sind sie vom eigenen Weg abgekommen, weil ihnen andere deren Weg aufgezwungen haben? Haben sie vergessen, was es heißt, zu suchen?
Vielleicht können wir es nicht finden. Vielleicht müssen wir gefunden werden. Wir müssen! Egal, welche Aufgaben wir bewältigen müssen. Egal, wohin wir gehen müssen. Egal, wie lange wir warten müssen. Egal, wie viele Gefühle wir durchleben und vergessen müssen. Wir dürfen es nicht missachten!
In mir befindet sich ein kleiner Funke, nichts anderes als die große Sternschnuppe da draußen, und das ist, was mich antreibt. Selbst in der finstersten Nacht hören die beiden niemals auf zu leuchten.
Sucht ihr nach Gesundheit oder nach Freiheit oder nach Arbeit oder nach Berufung oder nach Liebe, so wie ich? Alle sind mit Vorteilen und Nachteilen behaftet. Sie machen aus, was ich bin. Wie kann das gleichzeitig so bekräftigend und so ermüdend sein? Warum muss es sich so anfühlen?
Ich würde gerne wissen, ob ich der einzige Mensch bin, der so empfindet. Werden wir morgen noch nach etwas suchen? Haben wir gestern schon etwas gefunden? Man weiß nur, dass es unglaublich wichtig ist.
Es tut weh. Also sagt mir.
Wie fühlt es sich an?
Dieses eine Wort mit fünf Buchstaben!
Glück.
Eine eingerissene Seite. Ein zerfranstes Hemd. Eine dreckige Figur. Ein zerkratztes Kissen. Wie es mich wahnsinnig macht. Wie sich mir die Härchen im Nacken aufstellen. Was für ein unangenehmes Gefühl das doch ist. Weg damit, weg!
Kintsugi: japanisches Nomen, zu Deutsch ›Goldflicken‹; eine traditionelle Methode zur Reparatur von Keramik, bei der Bruchstücke eines bestimmten beschädigten Gegenstandes mit Lack zusammengesetzt werden, welcher mit metallischem Pulver angereichert wurde.
Wunderschöne goldene oder silberne Risse durchströmen das Objekt und wirken wie die Fäden eines Insektes, und die Risse durchziehen auch mich. Zunächst erschaudernd, dann wohltuend.
Es ist faszinierend, einen kaputt gegangenen Gegenstand so zu reparieren, dass man seinen Zerfall nicht nur auf Anhieb feststellen kann, sondern diesen auch noch besonders hervorhebt. Man versucht erst gar nicht, den Misserfolg zu verbergen. Vielmehr schätzt man auf diese Weise die lange Zeit, die der Gegenstand bei seinem Besitzer verbracht hat. Gleichzeitig sorgt man dafür, dass sein Nutzen weiterhin gewährleistet wird. Und wie bei den Narben auf dem Bauch einer Mutter ist man sogar ein bisschen stolz darauf.
Eine zerknitterte Zeichnung. Ein beschmutztes Tuch. Eine verbogene Schüssel. Ein zerfleddertes Spielzeug. Wie wichtig mir diese Dinge doch sind. Durch ungewöhnliche Ereignisse sind sie in mein Leben getreten. Bei manchen von ihnen handelt es sich um Geschenke, geplante oder zufällige, die mir viel bedeuten. Um nichts auf der Welt würde ich sie eintauschen. Sie sind wunderschön.
Meine geliebten Kindheitsbücher mit den vielen Kakao-Flecken auf den Seiten? Will ich nicht missen. Sie haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Und zum ersten Mal kann ich das ohne Scham sagen.
Damals war ich kein Freund davon, etwas zu reparieren. Sobald der beschädigte Gegenstand ersetzt war, fühlte ich mich zufrieden. Heute überlege ich mir zwei Mal, bevor ich etwas Neues kaufe. Etliche nicht ganz so perfekte Dinge liegen in meiner Wohnung verteilt.
Was hat sich verändert? Vielleicht habe ich dazugelernt. Ein bisschen zumindest.
Sie schlagen mir mit Ihrer Nettigkeit ins Gesicht, und ich drücke das so aus, weil ich es tatsächlich so meine. Immerzu tragen Sie diese Maske, die Ihre Hässlichkeit verbirgt. Eigentlich könnten Sie sich ihr selbstgefälliges Grinsen von den Lippen wischen, denn mittlerweile hat Sie jede Person durchschaut. Ob Sie nun frohe Kunde bringen oder den übelsten Ärger im Gepäck haben, Ihre Mimik scheint dieselbe. Manchmal entgleiten Ihnen die Züge, und man kann Ihr wahres Antlitz erkennen, für einen winzigen Augenblick nur. In einer Welt, in der es gilt, alle zu befriedigen, erbringen Sie die Leistung, die man sich wünscht, und man kann erkennen, was Ihnen das kostet. Sie passen in diese Sphäre der Oberflächlichkeit, weil Sie tun, was zu tun ist, und das ist Ihnen genug. Jedes einzelne Wort von Ihnen klingt so falsch. Gespräche führen selten über allgemeine Verpflichtungen oder das Wetter hinaus. Fehler suchen Sie stets bei anderen, nie bei sich selbst. Im Urteilen sind Sie schnell, aber was Empathie angeht, sind Sie träge, fast schon erlahmt. Nie machen Sie sich darüber Gedanken, dass andere Leute auch mit Problemen zu kämpfen haben, und falls doch, dann denken Sie, dass alle genauso gleichgültig damit umgehen. Sind Sie zufrieden damit, wie Sie leben? Vermutlich schon! Sind Sie zufrieden mit sich selbst? Wohl kaum!
Ich war noch niemals in meinem Leben nett. Es liegt mir nicht. Smalltalk ermüdet mich, Konversationen ohne Bezugspunkt finde ich anstrengend. Verstellen kann ich mich auch nicht. Wenn mir jemand missfällt, bekommt er das mit aller Macht zu spüren. Und trotzdem würde es mir nie in den Sinn kommen, jemanden vorschnell zu verurteilen, meine Schlüsse zu ziehen, Leute abzustempeln. Ich helfe anderen, nicht weil ich mir eine Gegenleistung erwarte, sondern weil es menschlich ist. Ich halte anderen die Tür auf, nicht weil es zur Etikette gehört, sondern weil es Sinn macht. Ich gebe Komplimente, nicht weil ich mich anbiedern will, sondern weil es die Persönlichkeit meines Gegenübers formt. Ich sage die Wahrheit, nicht um mich nicht in Lügen zu verstricken, sondern weil ich mich selbst mit allen Tugenden und Sünden akzeptieren kann. Und wenn es meine Energie zulässt, werde ich stets versuchen, dich zu verstehen – zu begreifen, was das Leben angestellt hat, dass du so bist wie du bist. Macht mich das zu einem guten Menschen? Oh, wahrhaftig nicht! Fühlt es sich wenigstens gut an? Das schon eher!
Wenn ich die Wahl hätte, würde ich eine ehrliche Person einer höflichen vorziehen. Einen grimmigen aber gerechten Vorgesetzten einem freundlichen aber unfairen. Einen einfältigen aber fleißigen Schüler einem schlauen aber überheblichen. Ich wäre lieber in Gesellschaft eines guten Menschen als einen netten. Aber das wussten Sie bestimmt schon. Sie verstehen es nur nicht.
Nett zu sein ist eine Verhaltensweise, gut zu sein ist eine Charaktereigenschaft.
Als sich die Sonne in ihren Rücken langsam Richtung Horizont aufmachte, verwandelte sich die Stadt, die von oben wie ein hässlicher grauer Baustein inmitten der farbenprächtigen Natur wirkte, in eine riesige Platine, durchzogen von beschäftigten Leitern und besetzt mit blinkenden Lichtern; und bestimmt gab es auch Schaltkreise, die keine wirklich wichtige Aufgabe mehr erfüllten.
»Wenn wir immer weiter laufen, können wir die Sonne besiegen«, meinte Maria und grinste schief.
»Ich glaube, auch dieser Tag wird unweigerlich zu Ende gehen«, antwortete Johann erschöpft.
Sie hatten eine Biegung hinter sich gelassen und endlich den Fluss erreicht. Vorsichtig stiegen sie das Gefälle hinab und blieben schließlich am Ufer stehen. Anstatt den Sonnenuntergang zu genießen, warf Johann den Papierstapel von sich. Maria unterdrückte einen Schrei und blickte den hunderten Seiten traurig hinterher, als sie vom Wind davongetragen wurden. In ihren Kehlen bildete sich ein Kloß, und an diesem Tag sprachen sie keine zehn Worte mehr.
Es galt, neu anzufangen. Mit diesem Entwurf ihres Kinderbuches würden sie sich am Markt nicht durchsetzen können, hatte es geheißen. Dabei hatten sie beide so viel Zeit und Mühe in dieses Werk gesteckt. Johann hatte die Geschichten geschrieben. Maria hatte die Bilder gemalt. Ein liebevoll gemachtes Buch, das Kindern bestimmte Werte wie Disziplin und Treue beibringen sollte.
Doch aus einem Neuanfang wurde nichts. Spätestens nach dem Ende des Studiums konnte sich keiner der beiden mehr auf das Werk konzentrieren. Sie mussten arbeiten, um ihre Wohnung zu erhalten, welche auch geputzt werden wollte, und Nahrung brauchte man auch, und an einem gewissen Punkt hatten sie auch einmal ein Haustier besessen. In ihrem Leben war kein Platz mehr für ihre Leidenschaft, was sie beide sehr bedauerten.
Als an diesem seltsamen Tag die Sonne unterging, erinnerte sich Johann wieder daran, wie er und seine Partnerin an diesem Fluss gestanden hatten. Etwa fünfundzwanzig Jahre waren vergangen. Immer noch konnte er den Schmerz spüren, und er wurde nur noch größer, als er den Kopf drehte und den Stuhl musterte, in dem Maria ständig gesessen hatte. Nun war er leer, und sie hatte ihm auch keine Kinder hinterlassen. Eigentlich hatte sie nur eine einzige Sache zurückgelassen.
Es war schon dunkel, als Johann die Lampe anschaltete und sich an den Schreibtisch setzte. Trotz der unzähligen Versuche, trotz der niederschmetternden Enttäuschungen, trotz des unvergesslichen Schmerzes, entschloss er sich dazu, neu anzufangen. Denn es wütete immer noch in ihm, all die Jahre später, dieses Verlangen zu schreiben.
Vorsichtig platzierte er Marias Unterlagen neben sich. Eigentlich hatte sie stets Bilder zu seinen Geschichten gemalt, aber vielleicht sollte er Geschichten über ihre Bilder schreiben. Vielleicht würde sie das von den Toten zurückholen.
Es war schon dunkel – aber trotz allem beschlossen sie, neu anzufangen.
Es gab eine Ära, da war das Wort mächtig.
Damals, als die Prinzessin vom Mond den Kaiser von Japan mit einem einzigen Wort zu eigen machen konnte. Damals, als der abendländische Prinz innerhalb von sieben Tagen ein ganzes Reich mit einem einzigen Wort aufstellen konnte. Damals, als der blondgelockte Entdecker seinen Widersacher mit einem einzigen Wort in Stücke reißen konnte. Damals, als die mächtigste Elfe Irlands ein Hügelgrab mit einem einzigen Wort errichten konnten.
Mit einem Kompliment war es möglich, sich den Posten eines Stadtführers zu sichern. Sollte jemand Bestimmtes leiden, musste bloß ein schrecklicher Fluch ausgesprochen werden. Kranke konnten mithilfe melodischer Laute geheilt werden. Wer sich in Schwierigkeiten befand, flehte um Hilfe, und schon wurde Unterstützung gewährt. Voraussetzung war nur, dass jedes einzelne Wort von Herzen kam.
Schließlich entdeckten die Menschen, dass die gesprochenen Worte nicht den eigenen Werten entsprechen müssen. Dies war der Zeitpunkt, an dem Worte und deren Bedeutungen auseinandergerissen wurden. Alles, was auf diesem Planeten wandelte, lernte zu verheimlichen, zu hasten und zu zögern, zu lügen. Und selbst aufrichtige Worte besaßen bald keine Macht mehr.
Es scheint, wir Menschen sind zu verschieden geworden. Dinge wie Abstammung oder Erfahrungen prägen uns und lassen uns bestimmte Werte formen. Wir beschließen, dass bestimmte Worte einen positiven oder negativen Einfluss auf uns haben, weshalb sie zu oft benutzt oder aber gemieden werden. Sprache war erst ein Werkzeug, dann Kunst, und ist nun Mittel zur Identifikation, und niemanden scheint es zu kümmern.
Heute ist die Welt von falschen Worten zerfressen. Lügen, Sarkasmus, Euphemismus, Sprichwörter; sie alle haben ihr grässliches Werk getan. Jeder einzelne Satz muss nun mit Füllwörtern versetzt werden, um klar zu machen, was gemeint ist. Jede einzelne Aussage kann nun auf zig verschiedene Arten interpretiert werden. Nichts ist so, wie es einmal war.
Damals, als »Danke!« noch ein Vertrag unter Verbündeten war. Damals, als »Auf uns!« noch ein Appell an die Götter war. Damals, als »Ich liebe dich!« noch eine lebenslange Bindung war. Damals, als »Tu was du willst!« noch ein magischer Spruch war.
Es gab eine Ära, da war das Wort mächtig. Aber es ist nicht jene, in der ich lebe.
Ich bin ein Magier.
Ich lüge nicht; ich kann Magie wirken. Das bedeutet nicht, dass ich eine Pflanze herbeizaubern oder ein Tier verhexen kann. Aber ich kann Dinge tun, an die sich Menschen erinnern. Manch ein Wesen denkt vor dem Einschlafen, wenn es rastlos im Bett liegt und sich herumwälzt, an meine Taten zurück – und merkt plötzlich, wie wichtig diese eine kaum wahrnehmbare Tat gewesen ist.
Ich kann nicht verhindern, dass du Schmerz empfindest. Aber ich kann verhindern, dass Tränen fließen, indem ich dir zur Seite stehe. Ich kann nicht verhindern, dass du liebgewonnene Personen verlierst. Aber ich kann versuchen, ihre Funktion zu ersetzen, indem ich dir ein treuer Freund bin.
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, stets die Wahrheit zu sagen. Das bedeutet nicht, dass ich niemals eine Notlüge erzähle. Und mit Sicherheit bewahre ich das eine oder andere Geheimnis für mich, sodass niemand je erfahren wird, was ich über dieses oder jenes denke. Aber ich habe den Unwahrheiten abgeschworen, weil sie mich zerstören. Aus diesem Grund werde ich dir sagen, was ich von dir halte.
Du bist perfekt. Vielleicht glaubst du mir nicht. Aber ich lüge nicht. Du hast in der Vergangenheit vermutlich schon einige Fehler begangen. Du wirst sicherlich auch in der Zukunft noch einige Fehler machen. Alleine die Tatsache, dass du etwas als Fehler empfindest, spricht dafür, dass du ein besserer Mensch sein willst. Lass die Ausreden sein, aber sei nicht zu streng zu dir. Gehe den Weg, den du dir ausgesucht hast, aber gehe ihn ohne Kompromisse, sonst verirrst du dich. Sei ehrlich zu dir selbst, denn nur so kannst du deine Träume Wirklichkeit werden lassen.
Du bist ein Teil des Ganzen; du bist alles. Das allwissende Universum hat dir drei Werkzeuge gegeben, um dir zu helfen, deine wahre Bestimmung zu finden. Lass dir von deinem Bauch sagen, was zu viel Anstrengung für dich ist. Fühlst du dich unwohl, ändere die Weise, wie du vorgehst. Lass dir von deinem Kopf sagen, welche Folgen deine Handlungen haben. Sei dir bewusst, dass viele Normen durchaus Sinn ergeben und mit welchen du brechen solltest. Lass dir von deinem Herz sagen, was zu tun ist. Wenn du ein Glücksgefühl empfindest, musst du es ergreifen. Sei stark genug, um zu überstehen, was nicht geändert werden kann. Sei weise genug, um zu erkennen, was nicht geändert werden kann. Und sei mutig genug, um zu verändern, was möglich ist.
Ich kann dich trotz oder sogar wegen deiner Fehler lieben. Das ist so ziemlich das einzige, was ich tun kann. Es ist nicht viel, aber vielleicht sogar das einzig wirklich Wichtige, meine ich. Also glaub mir, wenn ich diese eine Behauptung aufstelle, denn ich glaube fest daran.
Ich bin ein Magier.