was, wenn ... !?

Geschichtensammlung

  • Intimität
  • Turmbau zu Babel
  • schlimmste Formen der Liebe
  • geschätztes Unbekanntes
  • Spitzbergen
  • Cancel Culture
  • Wolkenbruch
  • Monster
  • Karikaturen des Lebens
  • zwei Arkana

Intimität

Von seiner Position aus konnte Herr Zimmermann vier Dinge wahrnehmen.

Da war zunächst das monotone Klacken der Standuhr, welches zu ihm herüberhallte. Bei der Uhr handelte es sich um ein Möbelstück aus stabilem dunklem Holz, das schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, aber im Gegensatz zu seinem Besitzer erledigte es seine Aufgaben immer noch tadellos. Es war ein Geschenk von Herrn Zimmermanns bestem Freund gewesen. Zumindest war er damals ein Freund gewesen, doch leider hielten Freundschaften meist nicht ewig. Schade war bloß, dass sich Herr Zimmermann gar nicht mehr an den Namen des Freundes erinnern konnte.

Direkt vor ihm befand sich der Küchenschrank, mit zwei Glastüren bestückt, die beim Beben aufgesprungen waren. Eine der vielen Figuren auf den Regalen war heruntergefallen. Nun lag sie am Boden, und Herr Zimmermann konnte sie genauestens inspizieren. Seine verstorbene Frau hatte unzählige Figuren gesammelt, und diese hier war eine ihrer liebsten gewesen, ein kleines graues Mäuschen, das im Ballettkleidchen ein wenig verloren wirkte. Bei seinem Anblick dachte Herr Zimmermann an seine Frau und wie sie ständig die Regale gewischt hatte. Irgendwie ließ ihn die Erinnerung an die schlimme Krankheit seiner Frau erschaudern.

Aus dem Ofen drang ein aggressiver Geruch, und Herr Zimmermann konnte das verkohlte Brot beinahe schmecken. Er hatte es mit Wurst und Ei belegt, so wie es auch seine Schwester stets tat. Die beiden Geschwister hatten viele Gemeinsamkeiten, was durchaus Sinn ergab, da sie Zwillinge waren. Auch ihre Talente waren sehr ähnlich. So hatten sie in ihrer Kindheit beide ein Musikinstrument erlernt. Zusammen waren sie stundenlang auf der Veranda gesessen und hatten ihre blechernen Werkzeuge bearbeitet. Das letzte Mal hatten sich Herr Zimmermann und seine Schwester vor elf Jahren umarmt. Bei dem Streit um das Erbe waren Worte gefallen, die geschmerzt hatten.

Rau und kratzig fühlte sich der Umhängegurt des alten Rucksacks an. Als wäre er ein Rettungsanker in einem Bäume verschlingenden Sturm, so fest hatten sich Herr Zimmermanns faltige Finger um das Stückchen Stoff gekrallt. Früher hatte ihn sein Sohn auf Wanderausflügen getragen. Eine übertrieben grinsende Sonne war auf eines der Fächer gestickt worden. Nun gab es keine Ausflüge mehr. Vermutlich ging Herr Zimmermanns Sohn mittlerweile mit seinem eigenen Sohn wandern. Was für eine seltsame Bestrafung, den Enkelsohn nicht treffen zu dürfen, nur weil ein paar abfällige Äußerungen über Menschen anderer Hautfarbe gefallen waren.

Herr Zimmermann wusste, dass er sterben würde, wenn er keine Hilfe bekam. Hätte er sich doch nur bei seinem alten Freund entschuldigt, sich besser um seine kranke Frau gekümmert, mit seiner talentierten Schwester einen gemeinsamen Weg gefunden, alle Vorlieben seines aufgeschlossenen Sohnes akzeptiert. Vielleicht wäre dann einer dieser Menschen noch hier, um ihm nach diesem fatalen Sturz zu helfen.


Turmbau zu Babel

Mein Name ist Leonie, und ich habe Höhenangst. Nicht nur ein bisschen, sondern das volle Programm. Es macht keinen Unterschied, ob ich beispielsweise an einem Seil über einem bodenlosen Abgrund baumle oder in vermeintlicher Sicherheit hinter einer Glaswand auf einer Aussichtsplattform stehe. Mir wird sofort schwindelig, mein Herz klopft wie verrückt, und manchmal drohe ich sogar in Ohnmacht zu fallen. Natürlich gibt es auch eine Therapie gegen diese Angststörung. So ist mir geraten worden, einen sicheren Ort wie meinen eigenen Balkon aufzusuchen und dort in unregelmäßigen Abständen nach unten zu blicken. Aber auch diese einfachen Situationen sind bei mir mit einem Haufen Stress verbunden, also stellt sich mir eine Frage der Bequemlichkeit. Will ich meine Angst denn überhaupt bekämpfen?

Dieses Problem besteht nicht von meiner Geburt an. Als kleines Mädchen habe ich die steilsten Wände erklommen und mich auf die schiefsten Bäume geschwungen. Vielleicht hat es irgendeinen Vorfall gegeben, bei dem ich eine Art Schock erlitten habe. Meine Eltern beteuern jedoch, dass mir nichts Derartiges widerfahren sei. Möglicherweise hat sich die Angst ohne jeden Grund manifestiert. Bin ich also dazu gezwungen, sie zu bekämpfen?

Es ist wie nach einer Trennung von einer geliebten Person. Wenn es das Glück gestattet, bei der ersten Beziehung schon einen Hauptgewinn zu ziehen, so wie bei mir, dann erscheinen alle anderen Partnerschaften wie Notlösungen. Es entsteht ein bestimmtes Gedankenkonstrukt, das vorgaukelt, niemand sonst auf der Welt könne auf diese Weise lieben. Gemeinsam wird eine surreale Festung der Zweisamkeit erbaut. Doch dann läuft trotzdem – oder gerade deshalb – etwas schief, und es folgt ein Fall aus allen Wolken.

Wie viele Ratgeber habe ich durchgeblättert, wie viele Websites durchkämmt, nach der Antwort auf die eine Frage; ›wieso‹? Noch nie habe ich irgendeine Form der Abhängigkeit erlebt, aber nach dieser Trennung habe ich am eigenen Leib erfahren, wozu emotionaler Entzug tatsächlich fähig ist. Ich habe so gut wie gar nicht geschlafen, habe fast keine Nahrung zu mir genommen, bin mit Fieber im Kreis gelaufen, und die Gedanken im Kopf haben keine Ruhe gefunden. Ich bin verwirrt gewesen, habe den Weg nach Hause einfach nicht gefunden. Tage sind vergangen, dann Wochen. Es ist besser geworden. Mit kleinen Schritten nur, aber jeder einzelne ist ein Erfolg.

Ich bin nicht zerbrochen. Schließlich bin ich wieder die Frau geworden, die ich vor der Trennung gewesen bin. Nein, ich bin sogar daran gewachsen. Noch nie hat es sich so gut angefühlt, in diesem Körper voller Schwächen und Ängste zu stecken. Meine Heimat ist also in mir. Aber solange ich keine neue Beziehung eingehe, oder es zumindest versuche, wird der Schmerz nicht gänzlich verschwinden.

Es ist wie mit der Höhenangst. Man kann darauf warten, dass sie verschwindet. Oder man geht auf den Balkon und holt tief Luft.


schlimmste Formen der Liebe

Sie blickte ihren schlafenden Verlobten an und lächelte wehmütig. Während sie nach den Kerzen griff, die farblich sortiert in Kunststoff verpackt waren, dachte sie an die Worte der anderen. ›Wie glücklich die beiden doch sind; ein perfektes Paar, wenn man das so sagen kann!‹

Langsam führte sie ein Streichholz zur Schachtel und ließ es mit einem Ruck über die raue Oberfläche schnellen. Obwohl das Geräusch den Raum wie ein donnernder Kanonenschuss erfüllte, rührte sich ihr Verlobter nicht. Er war schon längst in einem Zustand glücksseligen Schlafes gefangen. Als sie die Kerze entzündete, schloss sie die Augen – ein bisschen länger als für die Dauer eines gewöhnlichen Blinzelns vielleicht.

Schlagartig kam ihr die Erinnerung an ihren Kollegen wieder, mit dem sie vor einigen Wochen bei untergehender Sonne auf der Treppe gesessen hatte. Seine zarten Finger hatten ihre Hand umschlossen gehalten, und seine Berührung hatte ihr Energie gespendet. Obwohl er es nicht ausgesprochen hatte, wusste sie genau, was er hatte sagen wollen. Als wäre er die einzige Person, die ihre Sorgen verstand. Doch das war zu wenig.

›Wie kann es sein, dass eine selbstbewusste und starke Frau wie sie so abhängig ist? Ich bin mir sicher, dass ich diesen Blick schon tausende Male gesehen habe. Wie viele Lügen hat er diesmal erzählt; wie oft hat er die Grenze übertreten? Ist da etwas Echtes hinter seiner Maske; etwas Wahres, von dem wir nichts wissen; ein bisschen Glaube, für den es sich zu zweifeln lohnt? Gefangen in der Vergangenheit, als wäre sie ein Museum, in der Bilder einer perfekten Beziehung hängen, längst vertaubt und kaum beachtet. Vielleicht wird sie eines Tages aufwachen und es wissen. Vielleicht wird sie sich entscheiden und daran wachsen. Vielleicht wird sie ihren Kummer beenden und gehen. Wir leben in einer Welt, in der sich Menschen auf alles einlassen, bloß damit sie irgendetwas besitzen. Und so kommen wir vom Weg ab, der uns zu unserer wahren Bestimmung führt. Aber es gibt Hoffnung, natürlich. Hast du noch genug Kraft, dafür zu kämpfen, Rosa?‹

Entschlossen öffnete sie die Augen und stellte die Kerze auf den Platz, den sie so sorgsam ausgesucht hatte. Dann setzte sie sich neben ihren schlafenden Verlobten und lehnte sich zurück. Ein perfektes Paar, wenn man das so sagen kann? Also werden sie sich bloß an unser Lächeln erinnern, weil das alles ist, was sie je erlebt haben. Als dummen Unfall werden sie es abstempeln, wo die Stoffvorhänge doch so leicht entflammbar sind. Lange sind sie schon vertrocknet, wenn sie uns dann schließlich finden – unsere Tränen, in denen wir ertrunken sind.


geschätztes Unbekanntes

Natasha hatte in ihrem Leben noch kein einziges Mal Angst vor der Dunkelheit verspürt. Im Gegenteil; vollkommene Finsternis war sogar befreiend. Keine Bilder, die seltsame Formen annehmen und verrückt spielen. Nur Schwärze, sonst nichts.

An diesem Tag allerdings hätte sich Natasha am liebsten eine Glühbirne auf die Stirn gebunden. Warum hatte sie auch diesen Weg durch das Wäldchen einschlagen müssen? Bloß um zehn Minuten früher zuhause zu sein und den grölenden Säufern am Bahnhofsgelände zu entgehen. Ein ziemlich großes Risiko für so eine kleine Abkürzung.

Die Taschenlampenfunktion auf Natashas Smartphone war keine große Hilfe. Da war zwar ein einigermaßen heller Lichtkegel, der die Schatten durchschnitt, doch der Nebel griff von allen Seiten nach ihr. Unter ihren Schuhen knackten Zweige, und trockene Blätter raschelten bei jeder Bewegung. Irgendwo machte sich ein Waldkauz mit einem aufgeregten Schrei bemerkbar.

Plötzlich stolperte Natasha. Beinahe wäre sie gestürzt, konnte sich jedoch im letzten Moment noch an einem dicken Stamm abfedern. Sie wusste, dass es keine gute Idee war, sich umzudrehen. Andererseits wollte sie wissen, worüber sie gestolpert war. Wie groß war schon die Wahrscheinlichkeit, dass da etwas Unheimliches lag? Vermutlich gleich Null. Aber es war kein Baumstumpf, es war auch keine Wurzel, und es war kein Felsen. Sondern eine Leiche.

Ob der Körper tatsächlich leblos war, konnte Natasha nicht sagen. Allerdings war er nackt und mit Erde beschmiert. Als der Lichtstrahl des Smartphones auf ihn fiel, stach das Rot zwischen all den anderen tristen Farben deutlich heraus.

Es dauerte eine Weile, bis sich Natasha wieder bewegen konnte. Dann schaltete sie die Taschenlampenfunktion aus, drehte sich um und begann zu laufen. Sie rannte durch die Dunkelheit. Wie schön es doch war, so wenig sehen zu können. Weniger Gelegenheiten für das Gehirn, hinter jedem Baum einen Mörder zu vermuten.

Drei Minuten brauchte Natasha, bis sie aus dem Wäldchen fand. Aber es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Sie spürte die Hormone in ihrem Körper herumwirbeln. Als wäre sie genüsslich ihre tägliche Morgenstrecke gelaufen. Doch der Schweiß auf ihrer Haut kam nicht von Anstrengung, sondern war aus purer Furcht geboren worden.

In ihrer Wohnung angekommen, entledigte sie sich ihrer Schuhe und ihres Mantels. Sie stellte ihre Tasche ab und schlurfte in die Küche. Selbst als ihr Verlobter sie begrüßte, sagte Natasha kein Wort. Nachdem sie ein Glas Wasser geleert hatte, stellte sie sich unter die Dusche und verließ das Bad erst nach eineinhalb Stunden wieder. Unter dem Vorwand, dass sie starke Menstruationsschmerzen hätte, legte sie sich gleich ins Bett.

Natashas Verlobter war bereits vor langer Zeit neben ihr eingeschlafen, doch sie starrte noch mit offenen Augen in die Finsternis. Da war sie wieder, rein und vollkommen. Sie würde dieses Geheimnis mit ihr teilen. Wie eine gute alte Freundin.


Spitzbergen

Es ist schon spät. Die meisten Gäste sind längst verschwunden, nur der Stammtisch ist noch besetzt. Zwölf vertraute Stimmen prasseln auf mich ein.

»Kein großes Ding, Hanns!«

»Das wird schon wieder!«

»Hat nichts zu bedeuten!«

»Bald ist es vergessen!«

Alles dreht sich. Nicht wegen des Alkohols, sondern weil ich Schuldgefühle habe. Dazu gesellen sich merkwürdige Bauchschmerzen, vermutlich aus demselben Grund.

»Lass den Kopf nicht hängen!«

»Immerhin habt ihr so viel zusammen durchgemacht!«

»Wegen so einer Kleinigkeit gleich aufzugeben!«

»Da passiert schon nichts!«

Natürlich meinen es meine Freunde nur gut mit mir, aber ihre Worte erreichen mich kaum. In dieser Situation gibt es nichts zu beschönigen. Nichts, was sie sagen, kann mich aufmuntern.

»Es war nur ein einziges Mal!«

»Du warst wütend auf deinen Vater!«

»Und dann noch die finanzielle Lage!«

»Hanns, eigentlich bist du der beste Ehemann von allen!«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr und stehe auf. Ein gezwungenes Lächeln erscheint auf meinen Lippen. Dann verabschiede ich mich.

Auf der Fahrt nach Hause schießen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Trotzdem zwinge ich mich, mich auf die Straße zu konzentrieren. Der verführerisch glitzernde Neuschnee ist noch unangetastet. Was nicht von den Laternen angestrahlt wird, verliert sich in der Dunkelheit. Obwohl die Heizung aufgedreht ist, beginne ich zu zittern. Ich fühle mich wie ein Mann in Spitzbergen – isoliert in der Einsamkeit. Überall nur Finsternis und Kälte, die meinen Körper plagen. Trotz der Tatsache, dass ich nicht der einzige Einwohner in diesem Kaff bin, fühlt es sich so an, als hätte mich jeder im Stich gelassen. Zwar besitze ich mein Haus, meinen Beruf, meine Freunde, doch all das rückt in weite Ferne. Wichtig ist nur eine einzige Person. Und diese Person habe ich geschlagen. Ein einziges Mal nur. Aber geschehen ist geschehen. Man kann es nicht rückgängig machen. Es ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Ein Satz in der Chronik meines Lebens, der nicht gelöscht werden kann. Ich leide darunter.

Als ich abbiege, kann ich mein Zuhause erkennen. Im oberen Stockwerk brennt Licht. Die hellen Fenster sind wie leuchtende Sterne am schwarzen Himmel. Meine Frau ist also wieder heimgekehrt. Hoffentlich wartet sie auf mich, damit ich mich bei ihr entschuldigen kann. Aber vielleicht hat sie in Gedanken die Beziehung mit mir bereits beendet und packt ihre Sachen. Das würde bedeuten, dass ich sie verliere, und zwar für immer. Dieser Gedanke tötet mich. Und doch, wir haben so viel gemeinsam durchgemacht. Glück. Pech. Freude. Trauer. Nichts könnte uns auseinanderreißen, so haben wir es der Welt stets verkündet. Ein unzertrennliches Paar, inmitten dieses Chaos. Was macht da schon ein einziger Fehltritt? So unbedeutend wie das Wispern des eisigen Windes in dunkler Nacht.

Ich denke, dass sie mir verzeiht. Aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.


Cancel Culture

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Jonathan, doch seine Stimme wurde vom Geräusch des splitternden Glases verschluckt, als er den Scotch gegen die Wand schleuderte. Unbarmherzig ruinierte die überteuerte Spirituose den edlen Teppichboden des Hotelzimmers.

Ein penetrantes Klicken ertönte, und die Tür schwang auf. Herein stolzierte niemand anderes als Jonathans Agent, ein untersetzter Mann mittleren Alters, der sich Blake nannte. Sonst wartete er für gewöhnlich, bis er eine Zigarre angezündet hatte, bevor er mit seiner Tirade begann, doch diesmal hatte er sich bereits eine zwischen die rissigen Lippen gesteckt.

»Jon, Jon, Jon«, hauchte er und rieb sich dabei die Stirn, so theatralisch wie irgend möglich, obwohl sein Gesprächspartner ihm immer noch den Rücken zugewandt hatte. »Du hast ja schon viele dumme Sachen angestellt, aber heute hast du dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Ich weiß nicht, ob ich dich da rausboxen kann. Vielleicht wirst du dich für eine Weile selbst durch den stinkenden Morast kämpfen müssen. Bis ein bisschen Gras darüber gewachsen ist. Und niemand mehr davon spricht.«

Sekunden vergingen, in denen bloß die kratzige Stimme eines jungen Sternchens aus dem Radio zu hören war. Dann wandte sich Jonathan um, und seine Augen waren merklich gerötet.

»Was soll ich darauf antworten?«, fragte er halb ernst. »Ich musste es einfach tun. Wenn dir deine Frau wegläuft und deine Karriere den Bach runtergeht, dann ist das eine Sache, aber wenn dich jemand dermaßen in deiner Ehre kränkt, dann kannst du nicht anders. Habe ich diesem Trottel eben die Nase gebrochen. Ja, und? Geschieht auf der Straße ständig.«

»Das ist aber nicht die Straße!«, brüllte Blake, als seine Maske nun nach Jahren der Anstrengung schließlich von seinem Gesicht fiel. »Das ist der Olymp, verstehst du? Wir waren oben, ganz oben!«

»Ich alleine war ganz oben!«, entgegnete Jonathan, die Faust auf den niedrigen Tisch schmetternd. »Und bin alleine nach ganz unten gefallen! Du warst nur ein Anhängsel, das sich angebiedert hat. Wie ein Stück Kaugummi, das an meinem Schuh festklebt.«

»Ha, dass ich nicht lache! Den dreckigen Hintern habe ich dir wischen müssen! Und jetzt wirst du endlich gecancelt. Geschieht dir recht.«

Jonathan nickte, traurig lächelnd.

»Gehen wir damit nicht zu weit? Können wir heutzutage nicht mal mehr ein falsches Wort sagen, ohne verbannt zu werden? Nackt mit dem dreijährigen Sohn in der Badewanne planschen oder ihm bei Gefahr reflexartig auf die Hand patschen? Als weißer Mann Dreadlocks tragen? Einen frauenfeindlichen Witz erzählen? Menschen ändern sich. Nicht alle, aber einige. Warum verurteilt man mich für Dinge, die Jahre zurückliegen? Andere dürfen Millionen an Geldern unterschlagen oder ihre Protegés sexuell missbrauchen und kommen damit durch. Aber ich darf nicht den Idioten schlagen, der mir alles genommen hat? Ich erkenne die Gerechtigkeit nicht.«

»Weil es keine gibt«, meinte Blake und wandte sich ab.


Wolkenbruch

Schwere Augen von den herumfliegenden Pollen, die Schultern tragen Blütenstaub. Schon sind die letzten fliegenden und krabbelnden Arbeiter in ihren Verstecken verschwunden. Lautes Grollen in der Ferne, bunte Schirme sprießen bereits in die Höhe. Ewig sitzt man noch, bis dann die ersten Tropfen fallen. Tinte verrinnt, das Papier ist völlig durchnässt. Angestupst von der Nase des Partners. Es ist nicht Zeit zu gehen, und doch verschwinden alle. Ich will ja nicht meine Lungen fluten, eine äußerliche Reinigung reicht völlig. Der Sekundenzeiger meiner Uhr ist unglaublich langsam. Vom Turm hört man es schlagen, ich zähle kaum die Stunden. Aber ich weiß, du willst wissen, wie die Sterne stehen. Wie gerne wären wir über die wässrige Brücke gewandert, auf der Suche nach einer Insel für uns allein. Endlich Material für mich, zum Bearbeiten mit der schärfsten aller Klingen, und etwas Farbe, damit du künstlerisch sein kannst. Wie bald der Brief vernichtet ist, er hätte ohnehin keinen Sinn ergeben. Um mich herum, die Menschen haben alles. Genauso gut könnte es sich bei den Edelsteinen um zerbrochenes Glas handeln. Wird Reichtum auf diese Weise interpretiert, besäße ich das größte Vermögen, ist doch unsere Bande unendlich wertvoll. Manches Mal bis zum Reißen gespannt, niemals auch nur in Gefahr zerteilt zu werden. So abartig ich diese Welt auch finde, sie hat mich immerhin aufgenommen. Wieder einmal darf ich nicht den Anblick der Weiten, den Duft der Schätze, den Geschmack der Gaben, das Wispern der Stille vergessen. Und wie ich dich berühre. Nach dem Wolkenbruch. Ich stehe auf, klopfe meinem vierbeinigen Freund Lucky auf den Bauch. Meine Liebe wird heute nicht kommen, also gehe ich. Treffen werden wir uns ohnehin. Wenn auch nicht in dieser Welt. Aber das ist unwichtig.


Monster

Unverhofft durchbrach Samuel den Strudel aus Dunkelheit und lauschte fast eine Minute lang mit angehaltenem Atem, doch da war nichts. Schließlich kuschelte er sich wieder an seine Tochter heran.

Sie war in eine zerlöcherte Decke eingewickelt. Ihr strohblondes Haar kitzelte die Wangen ihres Vaters, doch das war ihm egal. Er drückte ihren unterernährten Körper fester an sich und presste seine Nase gegen ihren Hals, bevor er den Duft in sich aufnahm. Dann berührte er ihr Ohrläppchen und streichelte es so sanft, dass er den Finger kaum bewegte.

Auf einmal fuhr Samuel hoch. Da war ein Krachen gewesen; weit entfernt zwar, aber dennoch wahrnehmbar. Im fahlen Mondlicht setzte er sich auf und wartete zitternd, das gesprungene Fenster musternd, hinter dem die Welt untergegangen war. Wieder ein Geräusch; diesmal ein Scharren, als würde ein schwerer Gegenstand verschoben. Samuel drehte sich um.

»Wach auf, Mausezahn«, flüsterte er und schüttelte seine Tochter so vorsichtig wie möglich. Schlaftrunken wischte sie sich mit den Fingern über das Gesicht, das so unschuldig das vertraute Antlitz ihres Vaters suchte.

Wie konnte es sein, dass er sie derart anlügen musste? Ihr solche Angst einjagen? Sie glauben machen, dass Monster existierten … um sie davor zu schützen, was weitaus schlimmer und böser war als jedes Monster hätte sein können.

»Was ist los, Papa?«, drang ihre glockenhelle Stimme zwischen den Lippen hindurch.

»Es sind Monster im Haus«, sagte der Vater ernst. »Du weißt, was zu tun ist, ja?«

»Mhm«, machte die Tochter und griff nach den beiden Dingen, die auf dem Nachttisch lagen. Das eine war ein batteriebetriebenes Walkie-Talkie – und das andere ein Gerät, mit dem man per Knopfdruck ein magisches Licht beschwören konnte. Ein magisches Licht, das alle Monster vernichtete.

Samuel gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn, dann wandte er sich ab. Er holte sich das Jagdmesser und schlich die Treppen hinunter. Im unteren Geschoss rutschte er lautlos den Gang entlang. An der Biegung zur Küche lugte er um die Ecke, dann ging er weiter.

Plötzlich traf ihn etwas am Hinterkopf, und er sackte zusammen. Ein hämisches Lachen ließ ihn erschaudern, als zwei oder drei Plünderer über ihn hinwegstiegen. Er trat wild um sich, dann versuchte er sich aufzurappeln.

Jemand stürmte die Treppe hinauf. Verzweifelt packte Samuel das Walkie-Talkie, um seiner Tochter einen Befehl zu geben.

»Dana, die Monster kommen! Drück den Knopf, um das magische Licht zu beschwören! Ich hab dich lieb!«

Eine einzige Sekunde verging, dann wurden die Monster zerfetzt. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, als das Obergeschoss der Explosion zum Opfer fiel. Ein grelles Licht strömte die Treppe herunter, und Splitter flogen wie Geschosse herum. Eine weitere Sekunde verging, dann kehrte Ruhe ein.

Samuel spürte Blut an seiner Schläfe, doch das kümmerte ihn nicht. Er grinste schief und weinte bitterlich.

Nun war er selbst zum Monster geworden.


Karikaturen des Lebens

Ohne nachzudenken war Michael in das Haus gestürmt und hatte das Mädchen an den Schultern gepackt. Er hatte sie wild geschüttelt.

»Hey!«, schrie der Vater des Mädchens und schubste ihn von ihr. »Was soll der Scheiß?«

»Meine einzige Tochter liegt im Krankenhaus!«, keuchte er, immer noch geladen. »Sie hat sich gestern die Adern aufgeschnitten!«

»Aber … was?«, stammelte der Vater und blickte ihn schockiert an. »Warum hat sie das gemacht?«

»Ich weiß es nicht«, schluchzte er und ließ sich auf den Boden sinken. »Sie hat nicht mit mir gesprochen. Auf der Party gestern muss doch irgendetwas passiert sein. Oder nicht? Sag schon!«

Er hatte sich wieder an die Freundin seiner Tochter gewandt, doch auch diese schien kein einziges Wort herauszubekommen. Dann erst fielen ihm die vielen Narben auf ihren Unterarmen auf. Die letzten beiden Jahre hatte er sie nie bemerkt, doch jetzt brannten sie sich förmlich in sein Bewusstsein ein.

Oh, was für eine verwegene Karikatur von Mitgefühl.

Ein kurzer Moment, in dem sie die Kontrolle verlor, und schon hatte Gabriela ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige verpasst. In ihrer anderen Hand hielt sie immer noch die Verpackung des Riegels umklammert.

»Es tut mir leid, Mama.«

»Spar dir die Ausreden, du dummes Stück!«, keifte sie ihre Tochter an. »Wir haben uns darauf geeinigt! Eine einzige Süßigkeit pro Woche, immer sonntags! Nur ein Mal!«

Das junge Ding zitterte am ganzen Körper.

»Du gehst jetzt sofort ins Bad und würgst diese verfluchte Schokolade wieder hoch, hast du verstanden?«

Kaum mehr als ein zaghaftes und verzweifeltes Nicken.

»Hast du wenigstens die neuen Bewegungen geübt?«

Endlich etwas, womit das Mädchen seiner Mutter Freude bereiten konnte. Es zwang sich zu einem Lächeln.

»Ja, ich habe sie perfektioniert, Mama – keine Fehler mehr!«

Oh, was für eine grausame Karikatur von Stolz.

Als er die Tür öffnete, stand die Frau aus dem Internet vor ihm. Sie hatte einen langen Mantel um ihren Körper gewickelt, doch Raphi wusste, dass sie darunter nicht viel mehr als Unterwäsche trug.

Er ließ die Fremde eintreten und schloss hinter ihr ab. Nachdem sie im Wohnzimmer angekommen waren, legte sie einen Arm um seine Hüften.

»Was hast du denn für heute geplant?«, fragte sie mit verführerischer Stimme.

»Eigentlich habe ich mir gedacht, wir könnten uns auf das Sofa setzen und ein wenig fernsehen«, meinte er und lachte nervös. »Ich habe eine Tiefkühlpizza im Ofen; die könnten wir verputzen. Und ein gekühltes Bier oder so?«

Verblüfft musterte sie ihn, dann ließ sie sich auf dem Sofa nieder. Sie zuckte mit den Schultern und wartete ab, was geschehen würde. Aber anstelle von Geschlechtsverkehr gab es tatsächlich nur einen Fernsehabend.

Er kuschelte sich an sie und bemerkte, dass ihr Körper nach süßlichem Schweiß und stechendem Parfüm roch. In seinen Augenwinkeln bildeten sich Tränen, und er verbannte die Einsamkeit für ein paar Stunden aus seinem Gedächtnis.

Oh, was für eine absurde Karikatur von Intimität.


zwei Arkana

Langsam aber unaufhaltsam kroch der Nebel von den Hügeln ins Tal, und auf seinem Weg verschluckte er nicht nur ganze Wälder, sondern ließ auch die Vögel verstummen. Der erbitterte Kampf der beiden Arkana hatte schon vor Morgengrauen begonnen und dauerte noch immer an.

Mit einem mächtigen Schwerthieb ließ Artus seinen Gegner wanken. Die gewaltige Waffe lag schwer in seinen Händen, doch er wusste mit ihr umzugehen. Sein muskulöser Körper steckte in einer prächtigen Rüstung, welche seine Feinde vor Ehrfurcht erzittern ließ.

Durch das Schwingen des Stabes konnte Merlin seinen Feind zurückstoßen. Eine tobende Säule aus eiskalten Flammen brach aus seinem magischen Werkzeug hervor. In der leichten und mit merkwürdigen Symbolen bemalten Robe konnte er taktisch vorgehen.

Selbst als der Nebel in dieser Ruinenstadt ankam, wurde der Kampf nicht abgebrochen. Mittlerweile hatte sich der blühende Garten in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem abgeschlagene Köpfe und Monsterfänge zu finden waren. Eine winzige Biene gestattete es sich, auf einer von Tau bedeckten Rose Platz zu nehmen, wurde jedoch sofort wieder aufgescheucht. Durch die stickige Luft hallten Schreie, und das Keuchen der Kontrahenten wurde immer intensiver.

Zunächst beschwor Merlin eine Wand aus gigantischen Felsen, dann nutzte er die Auszeit, um sich auf einen besonderen magischen Spruch vorzubereiten. Plötzlich spürte er ein Beben und musste sich flach auf den Boden werfen. Wie erwartet hatte Artus sein Schwert mit voller Gewalt durch die Felswand getrieben und sie zum Einsturz gebracht. Nun setzte er nach und ließ seine Klinge durch die Luft tanzen. Doch auch Merlin wusste sich zu wehren. Während er rückwärts stolperte, blockte er mit seinem Stab die Hiebe ab. Danach kritzelte er ein imaginäres Zeichen vor sich. Schon wurde Artus herumgeschleudert und fiel. Nur durch seine ausgeprägte Körperbeherrschung konnte er der Niederlage entgehen.

Inzwischen war die Sonne bereits gewandert, und der Himmel hatte ein helles Blau angenommen. Auf den tiefgrünen Blättern der Wiesen waren keine Tropfen mehr zu entdecken. Von irgendwoher konnte man es bellen hören. Vielleicht waren es die Tiere leid, sich die Ruinen mit dem Krieger und dem Magier zu teilen.

Artus stemmte seine Füße in die Erde und setzte seine ganze Kraft in einen enormen Schlag, sodass sein Schwert wie ein Blitz durch die Luft sauste.

Merlin ließ die Kräfte der Natur in seinen Körper fahren und hielt seinen Stab schützend vor sich, sodass er jedem Angriff standhalten konnte.

So prallte Schwert auf Stab, und eine enorme Druckwelle raubte beiden Arkana die Macht weiterzukämpfen.

In diesem Moment streckte die Mutter der Kinder den Kopf in den Garten und rief ihnen zu, das Frühstück sei angerichtet. Und die Welt der Fantasie verschwand. Mit einem herzhaften Lachen ließen die Zwillinge ihre Spielzeugwaffen fallen und liefen auf das Haus zu, in Erwartung eines köstlichen Kakaos.