Etwa zwei Jahre vor den aktuellen Ereignissen im Donnergebirge tat Quetzal das, was er seit dem Verlust seiner Familie immer tat; ziellos umherwandern. Rasiert hatte er sich schon ewig nicht mehr, auch sein Kopfhaar war auf eine beeindruckende Länge gekommen. Manchmal wusch er sich in einem Teich, wenn er denn auf einen stieß, doch das kam selten vor. Selbst was die Suche nach Nahrung anging, überließ der Broh alles dem Zufall – fand er genug, um zu überleben, schlang er jedes Stückchen hinunter. Es wäre ihm aber auch recht gewesen, nichts zu finden und zu sterben. Doch dazu kam es nicht. Irgendetwas trieb ihn an, wollte ihn vom Selbstmord abhalten. Als wäre da noch etwas zu erledigen.
In unregelmäßigen Abständen besuchte Quetzal Dörfer seines Volkes, in denen er dann für ein paar Nächte unterkam. Um nicht als Taugenichts abgestempelt und davongejagt zu werden, handelte er mit den Bewohnern. Sie waren meistens sehr begierig darauf zu erfahren, was der Streuner dieses oder jenes Mal mitbrachte. Tatsächlich stieß Quetzal hin und wieder auf kleine Erzbrocken oder andere nützliche Materialien, die sich leicht transportieren ließen und seine Handelspartner erfreuten. Nur gut, dass er selbst ziemlich wenig damit anzufangen wusste. Für Quetzal hatte nichts mehr Bedeutung.
Eines Tages gelangte der streunende Broh weit nach Norden, unbeabsichtigt. Ein ruhiger Fluss, dessen Verlauf er gefolgt war, hatte ihn bis zur Grenze zum toten Land geführt. Allmählich nahm die Erde einen grauen Ton an, und in der Ferne konnte man bereits abgestorbene Bäume erkennen. So lebensmüde, dass er einfach in dieses gefährliche Gebiet eindrang, war Quetzal dann doch nicht. Allerdings gab es in der Nähe eine Höhle, die ihn interessierte. Auf den ersten Blick schien sie nichts allzu Besonderes zu beherbergen. Außerdem konnte sie kaum tief genug sein, um jemandem Unterschlupf zu gewähren. Nichtsdestotrotz schien sie Quetzal zu rufen, so merkwürdig das auch war.
Im Inneren dieser Höhle herrschte absolute Stille. Jeder von Quetzals Schritten schien gewaltigen Lärm zu machen. Davon abgesehen gab es keine weiteren Laute, als hätte sich nicht einmal das kleinste Lebewesen hineingewagt. Nach einer geraumen Weile quetschte sich Quetzal durch einen Spalt im hinteren Bereich und gelangte und in einen fast vollständig von dicken Felswänden umgebenen Hohlraum.
Ein Mädchen, strahlend wie das Licht, mit weißer Haut und weißem Gewand, steckte in einem seltsamen durchsichtigen Kristall, welcher inmitten der Kammer schwebte.
Quetzal war erstarrt und konnte sich erst nach einer gewissen Zeit wieder bewegen. Als sein Körper ihm nicht mehr den Dienst verweigerte, schob sich der Broh langsam vorwärts. Es dauerte ewig, bis er die kurze Entfernung zurückgelegt hatte; so kam es ihm zumindest vor. Und schließlich war er nah genug, um mit ausgestreckter Hand den Kristall berühren zu können. Zögernd bewegte er seine Hand an dieses Mädchen heran, bis endlich einer seiner fünf zitternden Finger gegen das magische Material stieß.
Ko hatte von jenem gleißenden Licht, das bei dem Kontakt unmittelbar ausgelöst worden war, gar nichts mitbekommen. Tatsächlich war Quetzals Berührung nur der letzte Weckruf gewesen – immerhin hatte Ko schon vor einigen Tagen eine gewaltige magische Erschütterung gespürt und war aus diesem Grund aus ihrem langen Schlummer erwacht.
Als der Kristall verschwand und sie sanft hinab schwebte, fühlte sie, dass etliche Jahre vergangen sein mussten. Kein gewöhnlicher Mensch hätte derart lange überdauern können, doch dank der Magie in ihrem Körper hatte sie es geschafft.
Auf ihrem kindlichen Gesicht tauchte ein Grinsen auf, als sie den rothaarigen Hünen entdeckte, welcher in ihrer Nähe zusammengebrochen war. Dann drehte sie sich um, und das Grinsen wurde ihr sofort weggewischt.
»Wie konnte das passieren?«, kreischte sie und stampfte mit den Füßen auf. »Warum ist es nicht tot? Warum? Warum?«
Vorbei war es mit der Stille in der Höhle, denn Kos Stimme hallte kilometerweit. Von dem Gezeter wachte auch Quetzal auf, der zuvor aufgrund der Magiefreisetzung bewusstlos geworden war.
»Hallo!«, machte der Broh instinktiv, als er sich aufrichtete. »Immer mit der Ruhe, Kleines!«
Noch nie hatte Quetzal in ein solch furchterregendes Antlitz geschaut. Als Ko sich in seine Richtung wandte, war ihr Gesicht von blankem Zorn zerfressen. Ihr Anblick ließ den Broh sogar rückwärts taumeln.
»Nenn mich nicht Kleines!«, keifte Ko ihn an. Sie richtete ihre Finger auf ihn und war kurz davor, ihn zu töten. Doch dann kam ihr der Gedanke, dass er ihr nützlich sein könnte. Immerhin benötigte sie einen Verbündeten, wenn sie so ganz alleine war. Und dieser Broh wirkte immerhin akzeptabel.
Um sich abzureagieren, verließ Ko ohne ein weiteres Wort die Höhle und atmete unter freiem Himmel einige Male tief durch. Als der Broh zu ihr stieß, war er immer noch so verblüfft, dass er darauf wartete, dass das Mädchen die Initiative ergriff – was es schließlich auch tat.
»Mein Name ist Ko.«
»Ich heiße Quetzal«, stellte sich der rothaarige Hüne vor.
Das Juwel auf Kos Stirn funkelte.
Während Ko sich in ihren Gedanken verlor, musterte Quetzal sie noch einmal genau. Es war ein junges Mädchen, möglicherweise sieben oder acht Jahre alt. Nicht nur das merkwürdig pompöse Kleidchen mit den vielen vielen Rüschen war gänzlich weiß, sondern auch ihr gesamter Körper.
Da befand sich ein zartes Näschen im kindlichen Gesicht, und die Wangen waren rund. Obwohl Gliedmaßen und Torso ein wenig füllig wirkten, schienen sowohl Finger als auch Zehen lang und schmal zu sein. Besonders ihr makelloser Hals verlieh ihr etwas Majestätisches.
Das weiße Haar reichte hinten kaum bis zu den Schultern und wurde vorne von einem Band zurückgehalten. An diesem ebenfalls weißen Stückchen Stoff war eine Halterung befestigt, welche einen runden Edelstein auf Höhe ihrer geschwungenen Stirn baumeln ließ.
Schließlich regte sich Ko und blickte Quetzal direkt an. Ein paar Mal ließ sie ihre langen hellen Wimpern schlagen, und ihre weißen Iriden blitzten auf. Dann folgte ein Lächeln, doch Quetzal ließ sich nicht täuschen. So ein verdächtig auffälliges Verhalten hatten auch seine Kinder stets gezeigt, wenn sie irgendetwas Schlimmes angestellt hatten.
»Ich muss erst einmal herausfinden, was in dieser Welt geschehen ist, bevor ich dir von mir und meinem Schicksal erzählen kann«, meinte Ko langsam. »Könntest du so freundlich sein und für mich in die Hocke gehen?«
Quetzal tat wie geheißen, weil er dem Mädchen diese einfache Bitte nicht ausschlagen wollte.
Ko legte ihre Finger auf seine Stirn und horchte tief in ihn hinein.
›Ziio? Ziio!‹
Alles war zerstört worden. Nur noch Schutt und Kälte überall da, wo früher Stein und Wärme existiert hatten. Ein Nebelschleier hing über der Todesstätte.
Quetzal lief in die Ruine, die vor kurzem noch ein Haus gewesen war. Obwohl von der Leiche seiner Frau nur noch verschmähte Reste übrig waren, drückte er ihr totes Fleisch an sich. Von den Kindern war nichts mehr zu finden, außer vielleicht das Blut, das bereits eingetrocknet war. In der dunklen Ecke einer kleinen Kammer lag die Puppe, die Quetzal ihnen gemacht hatte. Mit zitternden Händen griff er nach ihr und hob sie auf.
»Neunhundert Jahre?«, ächzte Ko.
Quetzal schreckte von dem Mädchen zurück und starrte sie entsetzt an.
»Was hast du mit mir gemacht?«, wollte er schleunigst wissen. »Was hast du gemacht?«
»Wir haben weitaus schwerwiegendere Probleme als deine tote Familie«, knurrte Ko, was ihr eine schallende Ohrfeige bescherte. Daraufhin ließ sie einen in der Nähe kriechenden Salamander durch die Luft sausen und vor Quetzals Gesicht platzen. Innereien flogen herum.
»Das … ist krank.«
»Das ist nur Magie in ihrer mächtigsten Form«, erklärte Ko schnippisch. »Und jetzt, da du weißt, wie unfassbar mächtig ich bin, solltest du mich nicht noch einmal schlagen. Oder auf eine andere Weise verärgern.«
»Was bist du?«, fragte Quetzal angewidert, nachdem er sich von dem Schock erholt hatte.
Daraufhin begann Ko zu erzählen, wer sie war. Ihr aufgebrachtes Gegenüber setzte sich und hörte aufmerksam zu. So verwunderlich diese Geschichte auch klang, Quetzal glaubte ihr. Immerhin hatte er jahrelang nach Möglichkeiten gesucht, sich an den Mördern seiner Familie zu rächen. Dass es Monster aus dem toten Land gewesen waren, hatte er in Erfahrung bringen können. Und nun stieß er ausgerechnet auf ein Überbleibsel jener Kultur, welche die verheerende Katastrophe erst heraufbeschworen hatte. Ja, genau; ein Überbleibsel aus dem toten Land, das diese Welt nicht mehr benötigte. Vielleicht könnte er Rache an dem Mädchen nehmen. Aber es war noch ein Kind, nicht wahr? Außerdem erzählte es von mächtigen Drachen, denen die Welt zum Opfer fallen könnte, wenn man sie nicht aufhielt. War es etwa das, was das Leben für Quetzal noch bereithielt? Einen sinnlosen Kampf gegen unbezwingbare Bestien?
»Dass ich beinahe neunhundert Jahre in dem Kristall eingeschlossen war, ist problematisch«, murmelte Ko schließlich. »Und dass sich kein Drachenskelett mit mir in der Höhle befand. Es kommen also schlimme Zeiten auf uns zu. Ich tue das nicht gern, aber ich muss dich wohl bitten, mir zu helfen. Meine begrenzten Magiereserven reichen nicht mehr aus, um ohne Begleitung reisen und mir jeden Feind vom Leib halten zu können.«
»Was ist eigentlich dein Ziel?«, fragte Quetzal misstrauisch.
»Ich muss meine Heimat aus einem sehr tiefen Schlaf holen«, flüsterte Ko und wandte sich nordwärts. »Dann können wir diese Drachen ein für alle Mal von vertreiben.«
»Das ist alles?«
»Das ist äußerst schwierig«, belehrte Ko ihn. »Wir brauchen natürliche Magie, und zwar viel davon. Als ich aus dem Kristall kam, habe ich außergewöhnliche Magie gespürt, so wie es sie schon seit Jahrtausenden nicht mehr gegeben hat. Aber ich kenne nur die ungefähre Richtung, mehr nicht. Also, wirst du mir helfen?«
Keine einfache Frage.
»I-ich weiß nicht«, brummte Quetzal und stand auf. Irritiert blickte er um sich.
»Wenn du mir hilfst, bekommst du das hier«, sagte Ko und pustete vor sich hin. Sofort formte ihr Atem eine Art Maske, die sich allmählich materialisierte und schließlich zu Boden fiel. Als Quetzal sie aufhob, spürte er die Magie in ihr.
Was für eine Macht das war.
»Ich schlage dich nicht mehr, und du drohst mir nicht mehr. Einverstanden?«
»Mhm«, machte Ko und lächelte. Es war ein emotionsloses Lächeln.
Es stellte sich als Pein heraus, Ko an seiner Seite zu haben. Das Mädchen nörgelte ständig und beschwerte sich über alles. Dass sie zu Fuß reisen mussten. Dass sie auf der blanken Erde schlafen und ohne gemütliches Kissen auskommen mussten. Dass sie nichts Anständiges zu essen und auch kaum etwas zu trinken hatten. Dass es tagsüber zu heiß und nachts zu kalt wäre. Dass sich die Luft unrein anfühlte. Dass sich ihr neuer Begleiter nicht genug um ihr Wohlergehen kümmerte. Bald wurde es Quetzal zu viel, und er strafte sie mit Schweigen.
Mit der Zeit gab sich der Broh tatsächlich weniger Mühe, überließ dem Mädchen nur noch Reste und suchte sich den besten Schlafplatz für sich selbst aus. Da merkte Ko, dass es noch schlimmer laufen könnte und zeigte sich ein wenig versöhnlicher.
Einige Tage später beobachtete Quetzal gegen Mitternacht die Sterne, während Ko bereits schlief. So wie sie sich verhielt, mochte man meinen, sie wäre tatsächlich noch ein Kind; obgleich ihr Geist, wie sie selbst immer sagte, während ihres Schlummers gereift war. Allerdings war sie in einem Kristall gefangen gewesen, und sie hatte quasi nichts lernen können. Das waren neunhundert Jahre, in denen man nur die eigenen Gedanken besaß – und sonst nichts. Ob sie litt? Ob sie sich nicht anmerken ließ, wie schwierig es für sie tatsächlich war, dass ihr ganzes Reich vernichtet worden war?
Quetzal fasste einen Entschluss, einen wichtigen. Er würde Ko begleiten und ihr ein guter Vater sein, wie er es seinen Kindern gewesen war. Aber er würde auf keinen Fall zulassen, dass Ki wieder erwachte, denn dieses Volk hatte bereits genug Schaden angerichtet. Und er musste sich etwas anderes einfallen lassen, um eine mögliche Rückkehr der Drachen zu verhindern. Vielleicht gab es einen Weg, wenn auch einen beschwerlichen, dies zu bewerkstelligen.
In diesem Moment bewegte sich eine Sternschnuppe über das Firmament.