Leseprobe: das Mädchen und die magischen Begleiter

 

An den Toren von Magena legte der Magier zum ersten Mal eine Rast ein. Es war noch dunkel, und Izabel war stundenlang auf den Beinen gewesen, doch zum Schlafen war sie viel zu aufgeregt.

Bei diesen Toren handelte es sich bloß um einen Pfad zwischen mehrere Felsformationen hindurch, welche am Rand des Tals unbeeindruckt in die Höhe ragten. Dies war die einzige sichere Passage nach und von Mühlheim, denn in allen anderen Richtungen musste man sich auf gefährlichen Wegen über die Berge kämpfen.

Von hier aus war das Dorf kaum mehr zu erkennen. Nur einige helle Punkte in der Dunkelheit zeugten davon, dass sich Menschen an diesem abgeschiedenen Platz niedergelassen hatten. Ein letztes Mal fragte der Magier seine neue Begleiterin, ob sie denn nicht lieber umkehren wollte, doch Izabel schüttelte stumm den Kopf.

Ob sich ihre Eltern bereits Sorgen machten? Holten sie ihre Laternen, um nach ihr zu suchen? Nahmen sie an, dass sie bei Agatha übernachtete, wie sie es schon einmal getan hatte? Wann würden sie merken, dass ihre Tochter nicht mehr wiederkam? Und was würden sie dann tun?

Schließlich brachen die beiden ungleichen Wanderer auf. Izabel war so angespannt, dass ihr Bauch heftig rumorte. Bis zu den Toren von Magena war sie bereits ein paar Mal gereist, doch dahinter wartete eine gänzlich neue Welt auf sie. Und sie hoffte, dass es eine Welt voller Abenteuer war.

Doch jede Reise beginnt mit nur einem Schritt, und jede richtige Entscheidung kann zunächst wie ein sehr schwerer Fehler wirken. Izabel begann ihre Idee – oder besser gesagt diese einmalige Gelegenheit – bereits zu hinterfragen. Ihr innigster Wunsch, Mühlheim zu verlassen und die Welt zu bereisen, schien plötzlich gar nicht mehr so wichtig zu sein. Mit jeder verstrichenen Stunde wurden ihre Zweifel greifbarer.

Vermutlich lag die Unsicherheit an der Anstrengung, die eine solche Reise mit sich brachte. Natürlich war es Izabel gewohnt, harte Arbeit zu verrichten, doch das monotone einen-Fuß-vor-den-anderen-Setzen war mühsamer. Außerdem hatte sich an ihrer Situation bisher kaum etwas geändert. Ihre langweilige Heimat lag zwar hinter ihr, aber auch die Pfade jenseits des Dorfes boten nicht viel Aufregendes.

Der Magier war kein geselliger Reisegefährte. Er stapfte vor sich hin und sprach nicht viel. Zumindest versuchte er zu antworten, wenn seine neue Begleiterin ihm eine Frage stellte.

»Was ist unser Ziel?«, wollte Izabel zum Beispiel wissen, woraufhin der Magier seinen Arm bloß in Richtung Nordosten streckte. Als sie ihn fragte, ob er denn einen bestimmten Ort aufsuchen wolle, gab er lediglich ein leises Brummen von sich. Tagsüber musste Izabel hinter dem Magier herlaufen, nur mittags ließen sich die beiden für eine kurze Pause nieder. Meist gab es nichts weiter als eine Suppe mit Gemüse zu essen, doch das Mädchen war kleine Mahlzeiten gewohnt. Nachts breitete der Magier eine Decke aus, auf der seine Begleiterin schlafen konnte. Manchmal schreckte sie aus einem Albtraum hoch und fühlte sich ohne ihre Eltern ein wenig verloren.

So vergingen drei Tage, bis der Magier und Izabel den Grabenweg erreichten. Bei dem sogenannten Grabenweg handelte es sich um eine alte Lehmstraße, welche zu beiden Seiten steil abfiel. Links davon schlängelte sich ein schmaler Fluss durch eine von Sträuchern überzogene Ebene, zur Rechten schienen sich bebaute Äcker bis an die Hügel am Horizont zu drängen. Die bräunliche Straße selbst war so breit, dass zwei Karren nebeneinander Platz hatten – was auch wichtig war, denn eine Möglichkeit auszuweichen (etwa in Form einer weiteren Straße oder auch nur eines gewöhnlichen Trampelpfades) gab es nicht.

Tatsächlich war es das erste Mal seit dem Aufbruch aus ihrer Heimat, dass Izabel anderen Personen begegnete. Das waren beispielsweise Bauern auf Wägen, welche mit ausgebeulten Säcken beladen waren und von Ochsen gezogen wurden. Auch der eine oder andere berittene Bote nutzte diese Straße, und einmal kam sogar ein Trupp Soldaten in schimmernden Rüstungen entgegen. Viele dieser Leute begrüßten den Magier freundlich, doch von Izabel nahmen sie keine Notiz.

Nachdem etwa ein halber Tag auf der Lehmstraße vergangen war, blieb der Magier plötzlich stehen und sprach einen Hirten an. Dieser schlaksige Mann war mit einer kleinen Herde von Schafen unterwegs.

»Guter Herr, wisst Ihr möglicherweise, ob ich von Dualim aus die Südpassage oder die Turmstraße nehmen sollte, wenn ich nach Granoath gelangen will?«

Izabels Herz machte einen Sprung, als sie den Namen Granoath vernahm. Ob es sich dabei um jene Stadt handelte, in der die Königin von Cervantes gelebt hatte? In den Büchern, die Izabel gelesen hatte, wurde diese Stadt als wunderschönes Juwel (und auch als das Zentrum des Kontinents) bezeichnet. Sie wünschte sich innig, Granoath einmal mit eigenen Augen zu sehen. Doch vorerst verbarg sie ihre Aufregung.

»Schneller geht es über die Südpassage, aber die Turmstraße ist um einiges sicherer«, lautete die Antwort des Hirten, der lächelnd weiterzog, nachdem sich der Magier bei ihm bedankt hatte.

Für eine kurze Zeit schwieg Izabel, doch dann stellte sie eine neue Frage.

»Ich dachte, Ihr seid der Magier, der jeden Winkel dieser Welt bereiste? Warum müsst Ihr Euch eigentlich bei einem Hirten nach dem Weg erkundigen? Granoath sollte Euch doch bekannt sein.«

»Nur weil ich die ganze Welt bereist habe, bedeutet das nicht gleich, dass ich in jeder Stadt eingekehrt oder auf jeder Straße gewandelt bin«, erklärte ihr der Magier und musste lachen. »Es stimmt, dass ich in Ländern war, von denen die meisten Leute keine Ahnung haben, dass sie überhaupt existieren. Allerdings wäre es doch etwas zu viel verlangt, in nur einem einzigen Menschenleben jeden einzelnen Ort auf der ganzen Welt aufzusuchen. Meinst du nicht auch?«

Izabel nickte und dachte eine Zeit lang über diese Worte nach. Es war verständlich, dass man nicht jedes Dorf dieser Welt besuchen konnte, denn es musste hunderte geben, wenn nicht sogar tausende. Aber es enttäuschte sie schon ein bisschen, dass der Magier einen einfachen Hirten hatte fragen müssen.

Den schweren Kopf in den Nacken gelegt, erinnerte sich Izabel an all die Bücher über den Magier – und an die lobenden Worte über ihn. Er wäre talentiert und stark und weise und unerschrocken, stand es geschrieben. Unfassbar mächtige Magie konnte er problemlos wirken, so hieß es. Leider schien er in ihrem Beisein keine seiner unglaublichen Fähigkeiten einsetzen zu wollen.

Als die Sonne zu sinken begann, tauchte ein großer knorriger Baum am Wegrand auf. In seinem Schatten ließ sich der Magier im Schneidersitz nieder und meinte, es wäre Zeit für eine Rast.

Es dauerte nicht lange, bis der Magier sich gegen den Baumstamm lehnte und seine Augen schloss. Izabel hätte zwar nichts gegen eine Erholung gehabt, doch sie blieb wach und stellte sich mitten auf die Straße, um nach Reisenden Ausschau zu halten. Momentan schien allerdings niemand auf diesem Abschnitt des Grabenwegs unterwegs zu sein.

Mit zusammengekniffen Augen starrte Izabel den Magier an. Sie fragte sich, ob er denn bereits eingeschlafen war. Je länger die Reise mit ihm dauerte, desto mehr Zweifel verspürte Izabel ihm gegenüber. Vielleicht war er ja gar nicht jener Magier, den sie aus den vielen Büchern kannte. Möglicherweise hatte man bei seinen Fähigkeiten übertrieben und ihm ein paar unglaubliche Eigenschaften angedichtet. Oder aber bei dem alten Mann handelte es sich um einen Betrüger.

So leise wie möglich schlich sich Izabel an den reglosen Magier heran. Nachdem sie eine Weile seinem regelmäßigen Atem gelauscht hatte, näherte sie sich dem ledernen Beutel, der unachtsam am Boden abgelegt worden war.

Es war nicht einfach, den Beutel lautlos zu öffnen, doch Izabel gelang es schließlich doch. Vorsichtig griff sie hinein. Und plötzlich spürte sie einen dicken Einband mit dünnen Seiten dazwischen – ein Buch!

Izabel zog das Buch hervor und betrachtete es interessiert. Lesen bedeutete ihr alles, und sie konnte sich für die verschiedensten Bücher begeistern, doch dieses Exemplar war einfach nur enttäuschend. Es war hässlich. Auf dem abgenutzten Einband war nicht einmal ein Titel zu finden. Auch standen die Seiten unterschiedlich weit hervor, und alle waren sie eingerissen oder fleckig. Es handelte sich um einen dunkelbraunen Einband mit hellbraunen Seiten dazwischen; nichts weiter. Dies hier war das vermutlich langweiligste Buch der Welt, dachte Izabel bei sich. Und dennoch schlug sie es auf.

Das erste Wort, das Izabel las, lautete ›Kunst‹.

›Regeln der magischen Kunst‹ stand ganz vorne in dem Buch, eingekerkert zwischen zwei kleinen Absätzen, und auf der gegenüberliegenden Seite waren Namen zu finden. Vermutlich handelte es sich hierbei um die ehemaligen Besitzer dieses Buches, denn jeder dieser Schriftzüge war so einzigartig, dass er von einer jeweils anderen Person stammen musste. ›Gil d’Oath‹ stand an der Spitze, darunter war ›Puszta‹ zu lesen, gefolgt von ›Flag III.‹, und zuletzt war ›Zamarkin‹ geschrieben.

Izabel drehte ihren Kopf in die Richtung des Magiers und stutzte. Ob sein wahrer Name Zamarkin lautete?

Nun war Izabel doch ein wenig neugierig geworden. Sie blätterte weiter durch dieses Buch, fand allerdings nichts mehr – so gar nichts. Keine einzige Seite war beschriftet, außer den beiden, die sie bereits gelesen hatte. Das konnte doch nicht wahr sein! Wer schleppte ein hässliches und vor allem leeres Buch mit sich herum?

Plötzlich spürte Izabel einen Druck an ihrer Schulter und erschrak so sehr, dass sie das Buch fallen ließ. Fünf kräftige Finger hatten sich bedrohlich auf ihr niedergelassen. Mit grimmigem Gesicht bückte sich der Magier nach dem Buch.

»Ihr seid aufgewacht?«, fragte Izabel und fühlte sich ertappt.

»Hat man dir nicht beigebracht, nicht in anderer Leute Sachen zu wühlen?«, knurrte der Magier erzürnt.

»Es tut mir leid, wirklich«, stammelte Izabel, die mit einem Mal überwältigende Scham verspürte. In der Tat war es ihr sehr unangenehm, überhaupt in den Beutel gegriffen zu haben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Eigentlich war sie sehr schüchtern, doch hin und wieder siegte ihre ungezügelte Neugier, was sie in unvorteilhafte Situationen wie diese brachte.

»Pff«, machte der Magier und ließ sich wieder auf den Boden sinken. »Alles in Ordnung; aber mach so was nicht noch einmal, verstanden? Das könnte gefährlich für dich werden; und ich will nicht, dass dir irgendetwas zustößt.«

Izabel nickte schuldbewusst. Sie fühlte sich sehr erleichtert, dass sie keine Strafe erwartete. Obwohl sie am ganzen Körper zitterte und sich eigentlich nicht zu sprechen traute, stellte sie schließlich doch eine Frage.

»Warum tragt Ihr ein leeres Buch mit Euch herum?«

»Leeres Buch?«, wiederholte der Magier und lachte heftig. »Ich kann nicht behaupten, es wäre leer.«

Mit einem breiten Grinsen öffnete der Magier das Buch und ließ seinen Daumen rasch über die Seiten wandern. Jede einzelne Seite war mit Unmengen an Text gefüllt, und auf manchen waren sogar schöne Zeichnungen zu finden. Verwundert starrte Izabel den Magier an. Warum waren die Seiten plötzlich nicht mehr leer? Dafür konnte es nur eine einzige Erklärung geben!

»Ein magisches Buch!«, sagten Izabel und der Magier gleichzeitig.

Was für ein Wunder!

»Ah, wie funktioniert es?«, hakte Izabel nach. Ungeduldig zappelte sie mit ihren Beinen, und ihre Finger hatte sie erwartungsvoll zu Fäusten geballt.

»Das interessiert dich wahnsinnig, wie?«, murmelte der Magier und steckte sich absichtlich langsam seine Pfeife in den Mund, bevor er endlich mit einer Erklärung herausrückte. »In diesem Buch sind alle Geschichten der Welt zu finden. Wenn irgendwo und irgendwann ein Text niedergeschrieben wird, taucht er in diesem Buch auf – egal ob es sich dabei um einen Abenteuerroman oder ein Rezept handelt. Texte, die schon vor meiner Geburt verschwunden sind. Texte, die erst geschrieben werden, wenn ich bereits tot bin. So habe ich im Laufe meines Lebens auch alles Mögliche über Magie gelernt.«

Ungläubig blies Izabel ihre Wangen auf, was den Magier amüsierte. So wirkte sie fast wie ein Kleinkind, das protestieren wollte.

»Aber dann müsste dieses Buch viel viel dicker sein«, meinte Izabel und streckte ihre Arme weit aus, um zu demonstrieren, welche Ausmaße das Buch haben müsste.

»Das stimmt wohl!«, bestätigte der Magier und streckte zwinkernd seinen Zeigefinger aus. »Aber es handelt sich immerhin um ein magisches Buch, nicht wahr? Es hat eine besondere Funktionsweise sozusagen. Wenn man das Buch aufschlägt, muss man einen bestimmten Text lesen wollen, und plötzlich taucht er auf. Man muss sich genau darauf konzentrieren. Denn das Buch kann erkennen, was in deinem Herzen vor sich geht.«

Nun kam Izabel nicht mehr aus dem Staunen heraus. Ein solches Buch hatte sie sich gewünscht, seit sie Lesen und Schreiben erlernt hatte. Ein magisches Buch, in dem alle Geschichten der Welt enthalten waren! Wenn man dieses Buch besaß, konnte man lesen und lesen und lesen – und würde nie an ein Ende gelangen.

»Wie heißt dieses Buch?«, hauchte Izabel ehrfurchtsvoll.

Lächelnd drückte der Magier dem Mädchen das Buch in die Hand. Sobald sich Izabels zarte Finger um das Buch schlossen, tauchte ein Titel auf dem Einband auf. Es war nur ein einziges Wort.

»Begleiter«, las Izabel.

»Das ist der Name des Buches«, sagte der Magier, während er sein junges Gegenüber beobachtete, wie es zärtlich über die Buchstaben strich. »Es ist ein magischer Begleiter für wahrhaftige Magier wie mich.«

Am liebsten hätte Izabel das Buch behalten. Doch es gehörte ihr nicht. Und sie konnte es auch nicht an sich nehmen, denn selbst wenn sie es täte, würde sich bloß wieder ihr Gewissen melden und ihr enorme Schuldgefühle bescheren. Aber vielleicht gab es ja einen Weg, auf ehrliche Weise an das Buch zu kommen – indem Izabel selbst zu einer wahrhaftigen Magierin wurde. Denn auf diese Weise würde der Begleiter eines Tages in ihren Besitz übergehen, so wie er einst von ›Gil d’Oath‹ zu ›Puszta‹ übergegangen war, von ›Puszta‹ zu ›Flag III.‹, und schließlich von ›Flag III.‹ zu ›Zamarkin‹.

»Ich will es«, flüsterte Izabel mit geschlossenen Augen und drückte das Buch an ihren Körper.

Zwei alte Frauen kamen gerade den Grabenweg entlang, und der Magier wartete, bis diese wieder außer Hörweite waren. Währenddessen zog er an seiner Pfeife und schien nachzudenken.

»Du kannst allerdings keine Magierin werden«, gab der Magier schließlich von sich, ohne einen Grund zu nennen.

»U-und warum nicht?«, krächzte Izabel erbost. »Ihr habt Eure magischen Sprüche doch auch nur dank dieses Buches gelernt! Ohne dieses Buch könntet Ihr wahrscheinlich nicht einmal eine Kerze anzünden.«

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, schon taten sie Izabel leid. Wütend funkelte der Magier sie an.

»Nun gut, du kleine undankbare Göre«, fauchte der Magier das junge Mädchen an. »Wenn du glaubst, es wäre so einfach, dann beweis es mir!«

Izabel hatte ein wenig Angst, doch sie hielt dem bösen Blick des Magiers stand. Sie kniete sich hin und legte den Begleiter vor sich auf den Boden.

»Ich will mir beweisen, dass ich eine Magierin werden kann«, murmelte Izabel und schlug das Buch auf. Sie fand sich auf einer Seite wieder, die nicht leer war, sondern tatsächlich Worte enthielt. Anscheinend handelte es sich dabei um einen magischen Spruch samt Erläuterung.

Ein kurzes heftiges Lachen ertönte. Vermutlich war dies ein äußerst schwieriger Spruch, denn der Magier kicherte schadenfroh. Doch der Schwierigkeitsgrad war Izabel egal, weil es ihr nur darum ging, sich beweisen zu können. Und vielleicht gelang es ihr sogar, einen beinahe unmöglichen Spruch zu meistern. Sorgfältig las sich Izabel den ganzen Text durch.

›Um ein geringes Leben zu erschaffen, muss ein lebloses Objekt zu einer Seele geformt werden. So kann ein geringer Geist eindringen und dieses Objekt bewohnen. Dabei ist zu beachten, dass der Geist nur zu einem Bruchteil jener Talente des Magiers fähig ist. Nach welchen Kriterien der Geist von der Natur beschränkt wird, ist allerdings ungewiss. Tatsache ist, dass das Objekt leblos wird, wenn der Magier selbst stirbt. Um dies anzuwenden, muss mithilfe von Vorstellungskraft ein Lebewesen imitiert werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass das erschaffene Leben allen Regeln der Natur unterliegt.‹

Izabel las diesen Text sogar zwei Mal, so unverständlich fand sie ihn. Sie begriff zwar die Worte, aber ihre Bedeutung entzog sich ihr.

Als eine Art Überschrift stand ›geringes Leben erschaffen‹ über dem Text geschrieben, doch für Izabel klang das zu wissenschaftlich. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn der magische Spruch ein wenig Poesie in sich tragen würde. Noch während sie so darüber nachdachte, veränderten sich die Buchstaben.

›Komm, Geist, denn dieses leblose Ding ich dir respektvoll darbring‘.‹

Das war schon eher ein magischer Spruch nach Izabels Geschmack – sie mochte es, wenn sich Worte reimten.

»Hm?«, machte der Magier leise und lehnte sich neugierig nach vorne, um zu erfahren, was da mit seinem Buch vor sich ging.

Aufgeregt ließ Izabel ihre Hände durch das Gras wandern. Bald stießen ihre Finger auf ein lebloses Objekt, das sie sofort näher begutachtete. Es war eine runde Kartoffel, die vermutlich im Laufe des Tages von einem Karren gefallen war. Da es Izabel völlig gleichgültig war, mit welchem Objekt sie diesen magischen Spruch versuchte, gab sie sich mit dieser Kartoffel zufrieden. Während sie an (treue und nervige und lustige und mutige) Charaktere aus verschiedenen Geschichten dachte, gab Izabel der Kartoffel einen Kuss – und sprach sogleich die magischen Worte aus.

»Komm, Geist, denn dieses leblose Ding ich dir respektvoll darbring‘.«

Und auf einmal hüpfte die Kartoffel aus Izabels Fingern und kullerte eine Weile über den Boden, bis sie sich zitternd erhob und sich den Staub vom Körper putzte.

»Fufufuuu, juhuuu! Was für eine Reise!«, rief die Kartoffel und grinste über das ganze Gesicht.

»Das … kann doch nicht wahr sein!«, raunte der Magier verblüfft.

Doch es entsprach sehr wohl der Wahrheit – die Kartoffel war dank Izabel zum Leben erwacht.